Biodanza macht glücklich

Biodanza macht glücklich

Geschrieben von Roland Rottenfußer

Wenn er von einem ihm unbekannten körpertherapeutischen Verfahren hört, reagiert Roland Rottenfußer meist erstmal mit einem Fluchtreflex. Erstens hat er als Redakteur und privat »Suchender« schon ungezählte solcher Seminare erlebt und erlitten. Zweitens bezweiflt er, dass man ihm auf diesem Gebiet noch etwas Neues bieten kann. Und drittens fühlt er sich nicht krank und hat nicht immer Lust, seine Probleme und die anderer Kursteilnehmer auch noch in seiner Freizeit auszudiskutieren – schließlich hat er auch beruflich mit der »Therapieszene« zu tun. Biodanza hat er über private Kanäle kennengelernt. So war er mental offener dafür und nach einigen Selbstversuchen sehr angenehm überrascht. Statt Schwerstarbeit an der Vergöttlichung seiner Persönlichkeit erwartete ihn hier ein lockeres und doch die Seele berührendes Tanzevent, das die Energien stimuliert und Laune macht.

Santiago de Chile. Es ist die Zeit der Pinochet-Diktatur, in der tausende von Menschen in Gefängnissen und Folterkellern einfach »verschwunden« sind. Aber Chile ist nicht nur ein Ort, wo Schlimmes geschieht. Zur selben Zeit, in den 70er Jahren, erreicht eine Welle der Humanisierung die Psychiatrien. Der 40jährige Psychologe Rolando Toro Araneda, der in der psychatrischen Klinik von Santiago arbeitet, hatte eine revolutionäre Entdeckung gemacht: Auch schwerstkranke Patienten sind Menschen. In jedem von ihnen, davon ist er überzeugt, steckt noch ein Funke Leben.
Toro beginnt zu experimentieren. Patienten, die nur noch bewegungslos dasitzen, spielt er Musik vor, und schon beginnen sie die Augen und andere Körperteile zu bewegen. Das bringt ihn auf die Idee, zur Musik einfache Bewegungsübungen hinzu zu nehmen. Manische Patienten kann er mit langsamer Musik beruhigen, depressive vermag er zu aktivieren. Ärzte und Pflegepersonal sind von Toros Versuchen so begeistert, dass sie es auch selbst ausprobieren und mit ihren Patienten »tanzen«.

Zeit des Erwachens

Es ist eine »Zeit des Erwachens«, eine Geschichte, die in vieler Hinsicht der des US-amerikanischen Psychiaters Oliver Sacks ähnelt, erzählt in der gleichnamigen Verfilmung mit Robert de Niro und Robin Williams. Mit dem Unterschied, dass Rolando Toros Versuche nicht nur durchschlagenden, sondern auch langfristigen Erfolg haben. Und dass sie zum Ausgangspunkt einer weltumspannenden Bewegung werden: Biodanza genannt, der Tanz des Lebens.

Roland Toro befasst sich in der Folgezeit intensiv mit dem Leben selbst, wie es entsteht und sich entwickelt. Er erkennt, wie viele Menschen von den ersten Lebensmonaten an in ihren grundlegenden Lebensfunktionen und vitalen Impulsen unterdrückt werden. Und er identifiziert den entscheidenden Anteil, den unsere repressive Zivilisation an dieser Misere hat. Nicht nur Psychiatrie-Patienten, auch viele »Normale« müssen blockierte Lebensfunktionen und Gefühle praktisch neu erlernen. Um das Handwerkszeug dafür verfügbar zu haben, studiert Toro viele Tänze und Rituale der Naturvölker, das Verhalten von Kindern und Tieren, Elemente der antiken Mythologie, aber auch neueste Erkenntnisse der medizinischen Forschung – etwa der Psycho-Neuro-Immunologie, die den Zusammenhang von Seele und Körperfunktionen wie Nervensystem und Immunsystem untersucht.

In Zusammenarbeit mit vielen seiner Schülerinnen und Schüler vervollständigt Toro das System von Biodanza in den kommenden Jahren und entwirft ein reichhaltiges Repertoire von Körper-Übungen – allein, zu zwei und in der Gruppe. Er löst damit eine Bewegung aus, die sich zunächst in Lateinamerika verbreitet und ab den 80er Jahren nach Europa herüber schwappt. Biodanza versteht sich als Kunst der Lebensfreude, will aber nicht nur individuell wirken, sondern hat darüber hinaus den Anspruch, ein ethisches Bewusstsein zu vermitteln, das für das langfristige Überleben des Menschen notwendig ist.
Typisch für die 70er Jahre, bekommt diese Therapie so auch einen politischen Dreh. Die volle Entfaltung des menschlichen Potenzials dient zugleich seiner Emanzipation von unterdrückenden familiären und gesellschaftlichen Kräften. Dass Biodanza darüber hinaus auch – in heutigen Worten – »systemisch«, »integral« und »tiefenökologisch« wirkt, macht diese Methode sehr modern.
1978 wandert Rolando Toro nach Brasilien aus und geht später nach Mailand. Die Befreiung der menschlichen Potenziale, die Biodanza anstrebt, und die Unterdrückung von unangepassten Menschen in Diktaturen sind unvereinbar. Ein Herz, das lebendig ist, könnte man schlussfolgern, gehorcht nicht gern.

Ein feuriges Seminar

Jahrzehnte später nähert sich ein Beinahe-Namensvetter des Meisters – Rolando Rottenfußer mit Namen – dem neu eröffneten Seminarzentrum im schnuckligen Inn-Städtchen Braunau, nahe der deutsch-österreichischen Grenze. Er will dort Biodanza am eigenen Leib erleben. »Feuer« heißt das Motto der heutigen Veranstaltung, die ein Biodanza-Lehrer mit dem passenden Namen Gottfried Freudmann anbietet. Gottfried, der Kursleiter, ist eigentlich gar kein Leiter, sondern ein »Ermöglicher« (spanisch: facilitador), einer, der den Raum eröffnet und Ermunterungen gibt, nicht durch straffe Führung einengt oder gar von einem Guru-Thron herunter »Wahrheiten« verkündet.
»Feuer«? Ich fühle mich an diesem Abend alles andere als feurig. Ich bin ein zurückhaltender, introvertierter Mensch, vom Rotieren der Gedanken und innerseelischen Prozessen oft so stark vereinnahmt, dass große Teile meiner nach außen gewandten Vitalität davon gleichsam verschluckt werden. Überdies ist meine Tagesform nicht besonders. Von wegen »Feuer«! Alles fühlt sich unendlich schwer an, selbst für ein Seminar »Erde« hätte ich heute wohl zu wenig Pep.

Der entfesselte Tiger

Der Facilitador hält sich nicht lange mit theoretischen Abhandlungen über die Unmittelbarkeit des Erlebens auf und lässt auch mir nicht viel Zeit, mich in einer Feedback-Runde mit meinen Widerständen gegen das Seminarziel auseinander zu setzen. Es geht sofort ans Eingemachte. Zu wohl ausgewählter Musik lassen wir unsere Körper flackern und lodern, mit schnellen, unruhig nach oben strebenden Bewegungen aller Extremitäten. Schon dadurch wird mein Körper aufgelockert, und es entsteht etwas wie Lust auf Bewegung.
Dann befreien wir den Tiger in uns. Die katzenhafte Geschmeidigkeit, aber auch die Aggressivität dieses schönen Tieres, das schon durch seine orangefarbene Körperzeichnung die Feueranalogie anschaulich macht, sollen wir im Paartanz nachvollziehen. Meine Partnerin und ich umkreisen uns lauernd, wir fauchen uns an, zeigen uns die Zähne, weichen geschmeidig zurück, um dann mit gefährlichen Prankenhieben die Luft zwischen unseren hochroten Köpfen zu traktieren. Keiner will klein bei geben, der Kampfgeist ist geweckt. In der Anspannung dieser gespielten Konfliktsituation erwachen Lebensgeister, die im Büroalltag meist im Tiefschlaf dahindämmern.

Ein Softie als Tanz-Gott

Mit dem Befreien der (gewaltfreien) Aggression erhält auch deren wesentlich beliebtere, aber ebenso gefürchtete Schwester, die erotische Energie, mehr Raum. In einer Art Balztanz entzünde ich vor meiner sitzenden, zu mir aufblickenden Partnerin ein Feuerwerk leidenschaftlicher Gesten und explosiver Bewegungsabläufe. Diese zeigt – sei es aus Höflichkeit, sei es aus echter Begeisterung – alle Symptome hingebungsvollen Anschmachtens, was meinen Tanz natürlich zusätzlich befeuert. Nach einer Weile tauschen wir die Rollen. Nun ist es an mir, zu schmachten und das erotische Erblühen dieses mir vorher unbekannten Wesens zu bewundern.
Zuletzt vereinigen sich unsere bereits schwitzenden, erhitzten Leiber zu einem Dirty-Dancing-Act. Schon weitgehend enthemmt, übe ich Antonio Banderas‘ Glutblicke und die ruckartigen, etwas herrischen Gesten, mit denen Tango-Tänzer ihre Gefährtinnen an sich heranzuzerren und wieder wegzustoßen pflegen. Unser Glieder umspielen einander in weichen bis fordernden Bewegungen, Gott und Göttin, die sich aus dem Kokon andressierter Zivilisiertheit befreit haben. Schließlich mündet der Tanz in eine immer schneller werdende Dreh-Bewegung, bei der uns die Zentrifugalkraft in einen wirbelnden Geschwindigkeitsrausch katapultiert. Auf die Gefahr hin, dass man mich nun für erleuchtet erklärt und mir Jüngerscharen zulaufen, füge ich hinzu: Da war niemand mehr, der getanzt hat. ES tanzte – durch mich, durch unser beider Körper hindurch.
War ich nicht zu Beginn des Abends müde und lustlos gewesen und hatte daran gezweifelt, ob ich mich jemals wieder erregend und erregbar fühlen könnte? Innerhalb von knapp zwei Stunden war ich durch einen Prozess geführt worden, der meine Lebensgeister wiedererweckt und mich (ich bleibe im Szenjargon) ganz »in meine Kraft« gebracht hatte. Vivencia (span. für »Erlebnis«) nennt Rolando Toro solche Sessions, wie ich sie mit meiner Partnerin erlebt habe. Gemeint sind herausgehobene Erfahrungen in Momenten gesteigerter Sensibilität und Intensität.

Musik – Bewegung der Seele

Eines der wesentlichen Elemente bei Biodanza ist die Musik, die eine größere Rolle spielt als bei allen anderen mir bekannten körpertherapeutischen Verfahren. Musik ist Bewegung der Seele. Sie schafft unter Umgehung des viel gescholtenen »Verstandes« (englisch mind) auf geradezu unwiderstehliche Weise Gemeinschaft unter den Zuhörenden und Mittanzenden.
Tanzen kann man nicht nur nach straffen Techno- oder Rock n‘ Roll-Rhythmen, auch weiche Klänge – etwa die der klassischen Musik – eignen sich hervorragend. Und gerade sie ergreifen zusammen mit der Seele unmittelbar auch den Körper, mehr als uns das meistens bewusst ist, da wir daran gewöhnt sind, sie mit einer steifen Konzertbesucherhaltung zu konsumieren. Klassische Musik kann flackern wie in Strawinskis »Feuervogel«, sie kann rinnen, plätschern, fließen, strömen wie in Smetanas Meisterwerk »Die Moldau«. Und auch menschliche Körper können auflodern, wogen und schwingen, besonders gut in Gemeinschaft mit anderen.

Die Intelligenz der Zellen

Rolando Toro geht von der Existenz eines »vitalen Unbewussten« aus. Gemeint ist damit so etwas wie die Psyche unserer Zellen. Unsere Organe und Zellen haben demzufolge eine Art selbstständige Persönlichkeit mit eigenem »Gedächtnis«. Die zellulären Prozesse sind unabhängig vom Wachbewusstsein des Menschen und stehen in einer direkten Verbindung zu kosmischen Abläufen. Wenn der »zelluläre Psychismus« in Harmonie ist, ist der Mensch glücklich und gesund. Rolando Toro erkannte das bei vielen Menschen in der Dritten Welt, die trotz bitterster Armut tiefe Freude empfinden können.
Die Philosophie von Biodanza billigt der Sexualität als Quelle von Kraft, Freude und Lebenswillen einen wichtige Rolle zu. Darüber hinaus hat sie einen »transpersonale« Komponente. Sie stimuliert den Einzelnen, über sein Ego hinauszugehen, um höhere Ebenen der Integration mit der Menschheit, der Natur und dem Universum zu erreichen. Biodanza wirkt grenzauflösend und zugleich Grenzen setzend, indem es dem Einzelnen hilft, seinen Platz in der Welt zu finden.

Raus aus der Isolation!

Letztlich ist es auch ein Weg der Liebe, der von dem Wissen ausgeht, dass ein isoliertes Glück – abgeschottet von lebendigen, zärtlichen, nährenden Kontakten mit anderen Menschen – nicht möglich ist. Krankheiten, weiß Rolando Toro, hängen letztlich mit einem Mangel an Liebe zusammen – oder mit einem Zerrbild von Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist, denn das führt zu einer Schwächung des Immunsystems.
Jeder, der erfahren hat, wie es ist, in Krisenzeiten auf Familie und Freunde zählen zu können, weiß, dass es getragen von einem Netzwerk wohlwollender Menschen wesentlich leichter ist, sein Gleichgewicht wieder zu gewinnen. In Europa, wo Menschen vielfach isoliert und herausgelöst aus traditionellen Familienstrukturen leben, ist dies vielleicht noch wichtiger als in Südamerika, der Heimat des Biodanza-Begründers. Heilung für den Einzelnen bedeutet nicht zuletzt Heilung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Voraussetzung ist aber eine gewisse Ausgewogenheit von Geben und Nehmen, die im Biodanza-Tanz spielerisch und symbolisch erfahren werden kann. Die Bereitschaft sich hinzugeben und sich anzuvertrauen ist ebenso wichtig wie die Fähigkeit, andere zu stützen und angemessen Verantwortung für sie zu übernehmen.

Schwingendes Feld aus Freude

Biodanza ist ein milder und doch effektiver Lehrmeister. Er bricht Widerstände nicht gewaltsam auf, führt den Teilnehmer nicht mittels beängstigender kathartischer Prozesse »durch Nacht zum Licht«. Niemand muss »sterben«, um durch Biodanza tanzend lebendig zu sein. Rolando Toros Methode weicht die »Charakterpanzerungen« behutsam von den Rändern her auf. Es wird hier nicht Krankheit bekämpft, sondern Glück generiert. Gesundheit entsteht dabei quasi nebenbei – jedenfalls, wenn Biodanza zu einem auch längerfristig begleitenden Teil des eigenen Lebens wird.
Ich bedaure es manchmal, dass wir erst ein Seminar besuchen und bezahlen müssen, um das erleben zu können: dieses Auftauen des Gefühlskörpers, diese Verbundenheit in einem schwingenden Feld aus Freude. Doch das Fallenlassen falscher Selbstkontrolle, die Hingabe an einen Prozess, der uns zu dem zurückführt, was wir eigentlich von Natur aus sind – das können wir nur selten durch einen einfachen Entschluss von heute auf morgen lernen. Im Grunde sollten wir fähig sein, das alles dem Leben selbst abzugewinnen. Solange wir aber noch teilweise Gefangene unserer Ängste, Prägungen, unserer »soul cages« (Sting) sind, ist ein Seminar in vielen Fällen besser als kein Seminar.

Heilung statt Hitler

Beim Nachhausegehen stoße ich in unmittelbarer Nachbarschaft des Seminarhauses auf einen Gedenkstein, der zu Frieden, Toleranz und Freiheit mahnt. Braunau am Inn – da war doch was … natürlich, dies ist das Haus, in dem Adolf Hitler aufgewachsen ist. Seltsam, wie sich der Kreis schließt, denn auch Rolando Toro erschuf sein Biodanza-System im Schatten einer Diktatur, des Pinochet-Regimes. Damit ist er kein Einzelfall. Wilhelm Reich, der geistige Vater aller bioenergetischen Therapien, musste sich gegen ein auch politisch repressives Umfeld behaupten und ging schließlich für seine Überzeugung ins Gefängnis. Stanislav Grof, einer der großen Entdecker und Befreier der unendlichen Weite und spirituellen Tiefe unseres Unterbewusstseins, erfuhr wesentliche Prägungen durch die Niederschlagung des »Prager Frühlings« in seiner Heimat Tschechien.
Wie schön, dass aus dem »Hitler-Häusl« jetzt ein Behindertenheim geworden ist – und aus dem Nachbarhaus ein Ort, wo sich die Seele freitanzen kann! Ich sehe vor meinem inneren Auge die monströsen Aufmärsche des Reichsparteitags von Nürnberg, wo Menschen keine Menschen mehr sein dürfen, wo sie wie Teile einer riesigen Maschine funktionieren müssen, zu perfekt geometrischen Figuren geordnet. Und ich sehe uns Biodanza-Schüler tanzen, jeder nach dem Rhythmus seines Herzens und doch miteinander verbunden. Wer zu seinem individuellen Selbstausdruck gefunden hat und zugleich natürlicher, freier, zärtlicher Kontakten zu anderen Menschen fähig ist, lässt sich nicht so leicht vereinnahmen durch unmenschliche Systeme. Ein Herz, das lebendig ist, gehorcht nicht gern.

Aus: Connection – Das Magazin für das Wesentliche 4/04 Juli-August 2004      Sonderteil Seite VIII -XI

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