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Völlig losgelöst

Tanzen ohne Regeln und dabei Seele und Körper berühren: Die Autorin Birgit Schönberger ließ sich von Biodanza mitreißen.

Von Birgit Schönberger

Ich will auf keinen Fall mit dem dicken Dieter im komischen grünen T-Shirt tanzen, ist mein erster Gedanke. Auch nicht mit der mürrischen Maria, die mal wieder zum Friseur müsste. Als es eine halbe Stunde später beim Vorübertanzen doch dazu kommt, dass Dieters Hände vorsichtig meine ergreifen, schäme ich mich für den Gedanken. Von mir aus kann es ewig so weitergehen, denn unsere Körper tanzen einen federleichten, verspielten Tanz, den man in keinem Kurs lernen kann, der irgendwie von selbst entstanden ist im Hin und Her der Blicke, im Auf und Ab der Bewegungen und umeinanderkreisenden Hüften.

Mein Kopf kann gar nicht begreifen, was an diesem Sonnabendvormittag in einer Berliner Schulaula bei meinem ersten Biodanza-Workshop mit mir passiert. Wie kann es mir Spaß machen, mit einem fremden Mann zu tanzen, dessen Rasierwasser ich nicht mag und mit dem einen Kaffee zu trinken ich mir kurz vorher nicht vorstellen konnte? Dass unsere Füße einen gemeinsamen Rhythmus finden ohne Schrittfolge, ohne Absprache, und wir uns am Ende, als der letzte Takt verklingt, umarmen und es sich gut anfühlt. Nicht peinlich oder klebrig, sondern einfach richtig in diesem Moment. Hätte mir jemand diese Szene angekündigt, ich hätte Stein und Bein geschworen, dass ich so etwas unter keinen Umständen zulassen würde. Bei aller Liebe zur Spontaneität.

Biodanza – Bewege dein Leben

Ein paar Musikstücke später tanze ich Rücken an Rücken mit Fred, der auch nicht zu meinen Favoriten gehörte. Nach anfänglicher Scheu und innerem Palaver – „Das kannst du doch nicht machen, du kennst den doch gar nicht, bist du jetzt völlig übergeschnappt!“ – lehne ich meinen Kopf an seinen und könnte heulen, weil es so befreiend ist, den stets überlasteten Kopf mal nicht halten zu müssen, das Gewicht vertrauensvoll abgeben zu können. Doch zum Weinen komme ich nicht, der nächste Tanz wartet.

Biodanza ist eine Wundertüte. Das Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen Begriff bios – Leben – und dem spanischen danza – Tanz – und wird mit „Tanz des Lebens“ übersetzt oder mit der Aufforderung „Bewege dein Leben“. Das Übungssystem, das Musik, Bewegung und Begegnung verbindet, wurde in den späten 60er Jahren vom chilenischen Anthropologen, Psychologen und Dichter Rolando Toro begründet. Die Wurzeln liegen in Tänzen und Riten verschiedener Völker. Auch Toros Erfahrungen mit Tanzveranstaltungen in psychiatrischen Kliniken flossen in sein Bewegungskonzept ein. Biodanza begreift er als Lebensschule für menschliche Begegnung und Zufriedenheit.

Es geht um Gefühle, nicht um Leistung

Seine argentinische Schülerin Cristina Arrieta brachte den Tanz des Lebens 1984 nach Deutschland. Mittlerweile werden hier in vielen Städten Kurse angeboten. Sie versprechen Stressreduktion und Steigerung der Kreativität und Lebensfreude. „Mehr Lebensfreude an einem Samstagmorgen geht wirklich nicht“, flüstert mir die Fotografin zu, die am liebsten mitmachen würde und hinter ihrem Stativ die Hüften wiegt. So ansteckend ist die Musik, und so einladend klingen die Worte, mit denen die Leiterinnen Dagmar Luckow und Amelie Teige die nächste Bewegung ankündigen. „Geht durch den Raum, aufrecht, mit Freude. Zeigt euch in eurer ganzen Schönheit.“ Sechs Männer und acht Frauen zwischen 30 und 70 gehen barfuß kreuz und quer, drücken den Brustkorb raus, riskieren ein Lächeln und werden mit jedem Schritt größer.

Eine Biodanza-Session, auch „Vivencia“ (Erlebnis) genannt, kann bis zu drei Stunden dauern. Das Thema heute: „Die Weite des Sommers“. Gesprochen wird nur ganz am Anfang, wenn alle im Kreis zusammenkommen. Jeder nennt seinen Namen und sagt kurz, was ihn gerade bewegt.

„Es geht darum auszudrücken, was man fühlt“, erklärt Dagmar Luckow in ihrer Einführung. „Über Gefühle kann man wunderbar dozieren, ohne sie zu spüren. Bei Biodanza geht das nicht. Man kann sich nicht belügen. Wer traurig oder wütend ist, merkt das spätestens, wenn ich sage: ‚Geht mit Freude.'“ Bei Biodanza geht es nicht um Leistung oder Schrittfolgen, um Richtig oder Falsch. Es geht um den Spaß an der Bewegung und das Erleben des Moments. „Alles, was euch guttut und keinem anderen schadet, ist erlaubt“ lautet das Motto. „Ihr müsst nichts leisten, euch nicht anstrengen, einfach nur sein.“

Eigentlich kann man mich mit fast allen Elementen einer Biodanza-Session jagen. Partnerübungen strengen mich an, Kreistänze mag ich auch nicht besonders, und Kuscheln mit Fremden schon gar nicht. Die Aufforderung „Sucht euch einen Partner“ wirft mich normalerweise zurück in finsterste Tanzstundenzeiten. Ich gehörte leider nicht zu denen, bei denen die Kerle Schlange standen.

Doch meine Widerstände schmelzen dahin, als Dagmar Luckow die nächste Musik auflegt und ausgerechnet die mürrische Maria mit einer neckischen Kopfbewegung mein Herz erobert und wir einen skurrilen Tanz mit wildem Kopfwackeln und Hüpfen vollführen und uns dabei schlapp lachen.

Tanzen gegen die Vorurteile

Fast fühlt es sich an wie früher, als ich mit meiner Freundin Gisela in der großen Pause kichernd Hand in Hand über den Schulhof hüpfte und wir uns an den Blicken der anderen ergötzten. Wahrscheinlich blamiere ich mich gerade ganz furchtbar. Doch im Hüpfen lösen sich alle Urteile auf, und mir ist vollkommen egal, was ich eben noch gedacht habe oder wie ich aussehe in meinem verschwitzten T-Shirt und den schweißverklebten Haaren. Der Kopf ist frei, mein Körper übernimmt die Regie.

Und dann bin ich plötzlich mitten im Kreis, tanze Sirtaki, und ich, die Kreistanzskeptikerin, finde es doch tatsächlich schade, als der Kreis sich auflöst. „Ringelpiez mit Anfassen“, würde mein Freund Paul angewidert sagen und fassungslos den Kopf schütteln. Da ist was dran, aber warum eigentlich nicht ein bisschen Ringelpiez? Das Leben ist doch sonst ernst genug. Und bei Biodanza ist auch Platz für die melancholische Seite des Seins. Schnelle, rhythmische und langsame, elegische Musikstücke wechseln sich ab. Auf extrovertierte Tänze, die zu mehreren getanzt werden, folgen ruhige Bewegungen und Entspannungsphasen alleine auf einer Matte am Boden. Ein Repertoire von rund 4000 Musiktiteln und 250 Tänzen und Übungen haben Rolando Toro und sein Team zusammengestellt.

Poesie der menschlichen Begegnung

„Am wichtigsten ist es zu lernen, sich an allen großen und kleinen Genüssen des Lebens zu erfreuen. Ein erster Schritt zur Öffnung ist die Freude am Tanz“, schreibt Toro in seinem Buch „Das System Biodanza“. Er spricht von fünf sogenannten Potenzialen, die durch den Tanz gefördert und gestärkt würden: Vitalität; Kreativität; Zärtlichkeit und Respekt im Miteinander; Sexualität und Genussfähigkeit; und Transzendenz: die Fähigkeit, über eine gegebene Grenze hinauszugehen. „Ihr könnt euch jetzt eine Umarmung holen, wenn ihr möchtet“, sagt Luckow manchmal am Ende eines Tanzes. „Aber schaut, ob die andere Person das auch möchte.“

Beim Herzen und Drücken halte ich mich zurück. Es ist mir ein bisschen zu viel, ich fühle mich durch die Bewegung satt und aufgeladen, mehr brauche ich nicht. Nach drei Stunden bin ich geerdet, gut gelaunt, voller Energie und habe sie wirklich erfahren: la poética del encuentro – die Poesie der menschlichen Begegnung. Auch alle anderen haben sich verwandelt: Die Gesichtszüge scheinen weicher, die Haut frischer, der Blick offener, die Schultern sind entspannt. Singend radele ich nach Hause, werfe meinen Mittänzern Luftküsschen zu und wundere mich über mich selbst.